Simon Strauß zur »Identitätspolitik«

Der Schriftsteller Simon Strauß hat sich zur »Identitätspolitik« geäußert: »Werden wir nicht alle gerade zu Skatspielern, die immer und überall ein Identitäts-As im Ärmel haben, um im entscheidenden Moment statt eines Arguments einen Moral-Stich machen zu können? Wenn über Identitätspolitik gestritten wird, beschleicht mich immer häufiger der Gedanke, dass sich die Frage: ›Was ist politisch?‹ bald ganz darin erschöpfen könne, Preisjurys oder Regierungskabinette möglichst verschieden zu besetzen und Bestseller oder Wahlprogramme in achtsamer Sprache zu schreiben«.

Gütsel zur »Identitätspolitik«

Ja, so ist es. Und er drückt sich offenbar vorsichtshalber noch vorsichtig aus … mit »verschieden« meint er »divers«, mit »achtsam« so etwas wie »gerecht«. Dazu habe ich schon einiges geschrieben, beispielsweise die Glosse zur »haigerechten Sprache«, zum »Gendern«, zu »Intelligenz und Bildung«, »Anekdoten sind wichtiger als Fakten«, »Künstliche Dummheit«Â und mehr. Was uns noch erwartet, sehen wir schon seit vielen Jahren in den USA. Und das hat schon Aldous Huxley vorausgesehen, ja vorhergesagt. Der Film »Idiocracy« beweist ebenfalls prophetische Qualitäten. Demnächst geht er als Dokumentarfilm durch. Das ist die »Schöne neue Welt«. McLuhan, Postman und zahllose andere wie zum Beispiel Susan Sontag oder Gavriel Salomon, Thomas Fischer, Trey Parker, Matt Stone, Marx, Lenin, Chomsky, Schmidt-Salomon, Nietzsche, Schopenhauer – sogar schon Philosophen der Antike haben solche Gedanken gehabt und das erkannt und gesagt. Sogar Precht hat sich überraschenderweise dazu hinreißen lassen, das »Gendern« als die »dümmste Idee überhaupt« zu bezeichnen. Und H. P. Baxxter, nicht gerade als Philosoph bekannt, sagte, »Gendern« sei für ihn »Idiotensprache«. Er sagt salopp genau das, was vor allem Leute sagen, die Ahnung von Sprache haben.

So wird beispielsweise in Pressemitteilungen immer mehr »gegendert« – gleichwohl inkonsequent. Bei Audi war beispielsweise die Rede von »Autofahrer_innen« und »Anwender_innen« (man arbeitet dort mit dem Unterstrich – in der Szene kann man sich noch nicht so recht für ein Zeichen entscheiden), aber dann doch von »Kunden«. Was wiederum aufschlussreich ist. Wenig erstaunlich ist hingegen, dass diese Leute von den Grundregeln des journalistischen Schreibens und der Typographie völlig unbeleckt sind. Dass sie von Sprache keine Ahnung haben. Bleibt zu hoffen, dass das nur eine vorübergehende Modeerscheinung ist. Am Rande bemerkt passiert genau das, was zu erwarten war: Die vielbeschworene »Sprechpause«, der »Glottisschlag«, mit dem ja nun die »Diversen« (was für ein verächtlicher Begriff) »mitgenannt« werden sollten, wird verschliffen, und es werden nun die Nachsilben »innen« betont. Was man bisher nur getan hat, wenn man ausdrücklich betonen wollte, dass von Frauen die Rede ist.

Die oft verwendeten Partizipien, die ja nun auch niemanden »mitnennen« sondern lediglich alle nur »mitmeinen«, sind beispielsweise völlig absurd. Sitzen in einem Symphonieorchester nun etwa »Streichende und Blasende« statt »Streichern und Bläsern«? Hört man vor Gericht »Zeugende«? Aber Spaß beiseite: Auf der Website von »Fridays For Future« ist tatsächlich die Rede von »Pressesprechenden«. Auffällig ist, dass das ganze vornehmlich von jungen Frauen ausgeht.

Dass sich nun Politik und Verwaltung genötigt sehen, einzugreifen und Sprachregelungen zu treffen, ist erschreckend. Das ist faschistisch. Das führt zu einer Verwirrung der Sprache, zum Trennen von Sprache und Realität. Von der Euphemismus-Tretmühle haben diese Leute offensichtlich noch nie etwas gehört, oder sie haben davon gehört und es nicht verstanden. Oder sie leugnen es. Oder – was noch schlimmer wäre – es ist ihnen schlicht und ergreifend egal. Womit wir wieder bei der Modeerscheinung und in der »Schönen neuen Welt« wären.

Es kann nur so sein, dass das der Epistemologie unserer Medien und der Wohlstandsverwahrlosung geschuldet ist, eine andere Erklärung gibt es nicht. Freilich unterliegt das offenbar alles einer Eigendynamik, die nur schwer oder gar nicht aufzuhalten ist. Denn die Menschen sind so. Erschreckend ist indes die Vehemenz, mit der das noch schneller durchgesetzt werden soll. Erschreckend ist auch die dem Ganzen innewohnende Paradoxie. Denn Toleranz ist die letzte Tugend einer zu Grunde gehenden Gesellschaft. Aber diese Toleranz ergeht sich in einer erschreckenden Intoleranz gegenüber allen vermeintlichen »Abweichlern«. Bei Facebook lässt sich schon jetzt beobachten, dass sich die Dummen durch die Klugen diskriminiert fühlen – allein deshalb, weil sie klug sind. Svenja Flaßpöhler beklagte ebenfalls die »krasse Stupidität« des Diskurses und erlebte bei einem im philosophischen Sinne kritischen Vortrag zum »Gendern« vor einem akademischen Publikum, dass Zuhörerinnen dazwischenriefen: »Hören Sie auf! Sie beleidigen uns!«.

Simon Strauß

Simon Strauß, 1988 in Berlin geboren, ist ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Historiker. Er ist der Sohn des Schriftstellers und Dramatikers Botho Strauß und der Rundfunkautorin Manuela Reichart. Sein Großvater ist der Chemiker, Pharmazeut und Medizinpublizist Eduard Strauss.

Als Schüler war Strauß Teil einer Gruppe, die sich regelmäßig mit dem jüdischen Shoah-Ãœberlebenden und Zeitzeugen Rolf Joseph traf. Aus diesen Begegnungen ist das Buch »Ich muss weitermachen – die Geschichte des Herrn Joseph« hervorgegangen. Die Gruppe besteht weiterhin und veranstaltet jährlich einen Wettbewerb, der Schülerinnen und Schüler dazu einlädt, sich mit jüdischer Geschichte und jüdischem Leben in Deutschland auseinanderzusetzen.

Strauß studierte Altertumswissenschaften und Geschichte an der Universität Basel, der Universität Poitiers und der University of Cambridge. Darauf folgte der Promotionsstudiengang am Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« bei Aloys Winterling. 2017 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Studie über die Althistoriker Theodor Mommsen und Matthias Gelzer promoviert. Seit 2016 ist er Redakteur im Feuilleton der »FAZ« als Nachfolger von Gerhard Stadelmaier. 2017 veröffentlichte er sein literarisches Debüt Sieben Nächte, im Sommer 2019 folgte sein zweites Buch Römische Tage. 2020 gab er das Buch Spielplan-Änderung! heraus, in dem 30 Autoren jeweils ein wenig bekanntes Stück als Vorschlag für Spielpläne deutschsprachiger Theater beschreiben, darunter zum Beispiel Daniel Kehlmann, Nino Haratischwili, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß.

Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins »Arbeit an Europa«. Strauß ist Initiator des europäischen Zeitzeugenprojekts European »Archive of Voices« (»Europäisches Archiv der Stimmen«), das von der Gerda-Henkel-Stiftung und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung unterstützt wird. Daneben hat er einen Lehrauftrag an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, an der er im Wintersemester 2018/19 einen Kurs zur Rezeption des antiken Roms in der Publizistik des 20. und 21. Jahrhunderts gab.

Der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehört Simon Strauß als ordentliches Mitglied der Abteilung »Darstellende Kunst« an.