Ein Tarifplus für Pflegefachkräfte von 11,63 Prozent in den letzten zwei Jahren und gesetzlich geforderte Höhergruppierungen: Im kirchlichen BAT-KF, aber auch in anderen Tarifverträgen wurde die Gehaltssituation in der Pflege in den letzten Jahren deutlich verbessert. Was längst überfällig war, hat jedoch einen Haken: Die Erhöhung passiert auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Bundespolitik und Pflegekassen hingegen stehlen sich aus der Verantwortung, kritisieren Diakonie Gütersloh und Diakonieverband Brackwede. Die Pflegedienstleister schlagen deswegen jetzt Alarm. »Pflege- und Pflegefachkräfte sind unverzichtbar, die Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitenden ist hoch«, sagt Björn Neßler, Chef der beiden diakonischen Werke, die sich zum 1. Januar zusammengeschlossen haben. »Insofern sind die Tariferhöhungen der letzten Jahre absolut angemessen und überfällig. Womit wir als Pflegedienstleister aber ein Problem haben, ist, dass die Leistungen der Pflegekassen seit 2015 mehr oder weniger auf gleichem Niveau stagnieren. Die Schere zwischen den Gesamtkosten und dem, was die Kassen übernehmen, klafft immer weiter auseinander. Als Betreiber können wir das nicht komplett aus eigener Tasche übernehmen und sind letztlich gezwungen, die Mehrkosten an die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen weiterzureichen.« Diese Situation stößt auch bei Ulrich Gerndt, Mitglied im Vertretungsgremium der Bewohnerinnen und Bewohner in der WG Herzebrock-Clarholz, auf Kritik. »Die Pflegeversicherung erhöht zwar ihre Beiträge, nicht aber ihre Leistungen«, sagt er. »Natürlich steigt zwar auch die Zahl der Pflegebedürftigen immer weiter. Aber auf diese Weise wird Pflegebedürftigkeit irgendwann zum Armutsrisiko.« Die Erhöhung des Eigenanteils der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen betrifft aktuell etwa die Klienten der zehn Wohngemeinschaften der Diakonie Gütersloh in den Kreisen Gütersloh und Warendorf. Für die Demenz-WGs hatte die Diakonie Gütersloh Ende 2018 turnusgemäß neue Preise mit dem Kreis Gütersloh aushandeln müssen, die für die Klienten in teils deutlich erhöhten Eigenanteilen mündeten: Je nach Pflegegrad stiegen diese zwischen 270 und 400 Euro pro Monat bzw. zwischen 19 und 50 Prozent. »Dass Angehörige darüber erbost sind, kann ich gut verstehen«, so Björn Neßler. »Dabei haben wir nur einen Teil der Mehrkosten weitergegeben – wir können diese nicht komplett selbst tragen.« Die Diakonie Gütersloh ist nicht der einzige Pflegedienstleister, bei dem aktuell die Preise anziehen. Verschiedene Altenheime in der Region haben laut Medienberichten bereits ebenfalls deutlich erhöht. Diese sind sogar doppelt gebeutelt: Seit 1. August 2018 gilt für die stationäre Pflege eine höhere Einzelzimmerquote, was ebenfalls auf die Preise durchschlägt. Andere werden demnächst nachziehen, sobald die Verhandlungen mit den Kostenträgern abgeschlossen sind. Dass Politik und Kassen sich aus der Verantwortung stehlen, ärgert Björn Neßler. »Immer wieder fordert die Politik, dass sich die Situation der Pflegekräfte verbessern muss – zu Recht. Und Herr Spahn hat mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz auch schon etwas auf den Weg gebracht. Aber es kann nicht sein, dass sich die Politik bei der Finanzierung der konkreten Altenpflege feinsäuberlich aus der Affäre zieht und die Sätze der Pflegekasse stagnieren – zu Lasten der Pflegebedürftigen.« Neues System, gleiches Geld
Dabei sah es vor zwei Jahren noch ganz anders aus – und die Branche hoffte auf eine Verbesserung der Leistungssituation. Denn zum Jahreswechsel 2016/2017 wurde das System von den alten Pflegestufen auf die neuen Pflegegrade umgestellt. Damit sich niemand verschlechterte, wurden Pflegebedürftige damals automatisch von ihrer jeweiligen Stufe in den nächst höheren Grad umgruppiert. Wer vorher also Pflegestufe 2 hatte, rutschte in Pflegegrad 3 oder – falls er an Demenz litt – sogar in Pflegegrad 4. »Mehr oder weniger alle Pflegebedürftigen erhielten dadurch erst einmal mehr Geld von den Kassen«, erklärt Neßler. »Hinzu kam noch ein monatlicher Entlastungsbetrag von 125 Euro, den seitdem alle Menschen mit Pflegegrad erhalten. Aber dieser Effekt ist mehr oder weniger wirkungslos verpufft.« Denn die Leistungen der neuen Pflegegrade entsprächen exakt dem, was früher Menschen mit Demenz in ihren jeweiligen Stufen bekommen haben. »Pflegebedürftige ohne Demenz erhalten seit der Umstellung zumindest teilweise etwas mehr Geld (siehe Tabelle) – aber speziell in unseren Wohngemeinschaften leben fast ausschließlich Menschen mit Demenz«, so Neßler. »Und für diese hat sich letztlich so gut wie nichts geändert. Und die Tariferhöhungen der vergangenen zwei Jahre wurden sowieso nirgendwo berücksichtigt.« Denn wenn ein Mensch mit Demenz jetzt pflegebedürftig wird und früher vielleicht Pflegestufe 3 bekommen hätte, landet er heute nicht wie im Zuge der Umstellung automatisch in Pflegegrad 5. Stattdessen wird er wie »normal« eingruppiert – oft in Grad 3 oder allenfalls 4. Neßler: »Das können wir gut an der Belegung in unseren Wohngemeinschaften erkennen – die Verteilung entspricht größtenteils der von vor drei Jahren.« Das heißt aus seiner Sicht konkret: Letztlich haben sich die Zuzahlungen der Kassen für Demenzpatienten nicht verändert – nur die Bezeichnungen der Eingruppierung. Die sogenannten Pflegesachleistungen der Pflegekassen liegen für die vier höchsten Grade zwischen 689 und 1.995 Euro. Sie entsprechen 1:1 den Leistungen für die vier höchsten Pflegestufen, die Pflegebedürftige mit Demenz bis Ende 2016 erhielten. Menschen mit Pflegegrad 1 bekommen keine Pflegesachleistung, sondern nur den Entlastungsbetrag von 125 Euro. »Egal, ob mit Demenz oder ohne: Aus unserer Sicht ist diese Situation für Pflegebedürftige so nicht haltbar«, kritisiert Neßler. »Wir appellieren deswegen an die Politik auf Lokal-, Landes- und Bundesebene, sich dieses Themas endlich anzunehmen. Wir würden uns wünschen, dass sie für pflegebedürftige Menschen in der Region Verantwortung übernehmen.«