Im Rahmen der Bertelsmann-Lesereihe »Belesen« machte der deutsche TV-Journalist und Autor Richard Schneider Station in Gütersloh. Er las Passagen aus seinem bei DVA erschienenen Sachbuch »Alltag im Ausnahmezustand« und diskutierte anschließend mit den Gästen über den komplizierten Konflikt im Nahen Osten, die Widersprüche in der israelischen Gesellschaft und seine Sorge über den wachsenden Antisemitismus in Europa. Neun Jahre alt war Richard Chaim Schneider, als er zum ersten Mal in seinem Leben nach Israel reiste. Vor dem Rückflug nach Deutschland sagte er zu seinem Vater: »Ich will hier nicht mehr weg.« Damals blieb ihm keine Wahl, doch er kehrte in das Land seiner Sehnsüchte zurück. Zunächst für einen Forschungsaufenthalt in Jerusalem, bevor er ab 1989 regelmäßig als Nahost-Korrespondent für die ARD aus der so spannenden wie krisengeschüttelten Region berichtete. Seine Erfahrungen, Erkenntnisse und Lehren aus 30 Jahren beruflicher und privater Auseinandersetzung mit dem jüdischen Staat hat er zu einem bei DVA erschienenen Buch destilliert. In »Alltag im Ausnahmezustand« schildert er seinen persönlichen Blick auf Israel – der auch beim Gütersloher Publikum auf großes Interesse traf. Am Dienstagabend kam Richard Schneider im Rahmen der Bertelsmann-Lesereihe »Belesen« für einen Lese- und Diskussionsabend in das Bambi-Filmkunstkino. Auf den knapp 300 Seiten seines Buches widmet sich Schneider ganz unterschiedlichen Facetten des Staates Israel, der jüdischen Religion sowie der komplizierten Gemengelage im Nahen Osten. Er zeigt auf, welche Langzeitfolgen die Schrecken der Shoah sowie die Traumata der Kriege gegen die arabischen Nachbarn bis heute haben. Er zeichnet die immer größer werdenden Trennlinien in der israelischen Gesellschaft nach, versucht sich an einer Einschätzung des aktuellen Premierministers Benjamin Netanyahu und analysiert die Rolle des Iran in den Konflikten der Region. Er beleuchtet das besondere Sicherheitsbedürfnis des israelischen Staates, benennt jedoch genauso Probleme und Folgen israelischer Politik. Als Sohn ungarischer Holocaust-Ãœberlebender spielt für ihn auch der heutige Antisemitismus in Europa eine wichtige Rolle. Themen, von denen jedes für sich genommen schon einen kompletten Abend ausfüllen könnte. Säkulares Tel Aviv gegen orthodoxes Jerusalem Schneider griff daher einzelne Kapitel heraus, jedoch nicht, ohne das Publikum in die Auswahl einzubeziehen: »Wollen Sie lieber etwas über den Gegensatz zwischen Jerusalem und Tel Aviv hören oder über die unterschiedlichen Gruppen von Juden in der Diaspora?«. Die Entscheidung war schnell getroffen. Anfangs habe er das Leben in Jerusalem genossen, erzählte Schneider, »denn als Journalist war es aufregend, im politischen und religiösen Zentrum zu sein, direkt an den Brennpunkten des Konflikts.« Doch die Stadt habe sich zunehmend verändert, sei in den vergangenen Jahren immer religiöser und bedrückender geworden. Ganz anders sei es in Tel Aviv, wo er selbst inzwischen seinen Lebensmittelpunkt hat: »Es ist wie eine kleinere Version von New York. Die ganze Stadt pulsiert voller Energie, sie ist liberal, weltoffen, hedonistisch; der Umgang mit Religion ist ungezwungener«, schwärmte Schneider. Die Rolle als kulturelles und wirtschaftliches Herz des Landes, als technologisches Epizentrum und Nährboden für eine florierende Start-up-Szene, locke immer mehr junge, qualifizierte Menschen aus aller Welt an. Allerdings konstatierte der Israel-Experte auch: »Die Menschen dort leben wie in einer Blase, in der sich der Konflikt einfach ausblenden lässt.« Der Nahostkonflikt. Wenn deutsche und internationale Medien die vertrackte Situation zwischen Mittelmeer und Persischem Golf beschreiben, werde die Beziehung zwischen Israel und den Palästinensern in den meisten Fällen als die Wurzel allen Ãœbels dargestellt, so Schneider. Ein Befund, der seiner Meinung nach die Realität kaum widerspiegele: »Die aktuellen Brandherde, darunter Syrien und Jemen, sind allesamt Konflikte zwischen muslimischen Staaten und religiösen Gruppen.« Hinter der Fassade der anti-israelischen Propaganda arbeiteten arabische Staaten immer enger mit dem angeblichen Erzfeind zusammen, so Schneider. Die Palästinenser spielten im Alltag der Israelis keine große Rolle, auch der Rückhalt für ihr Anliegen in der arabischen Welt schwinde. »Die Wahrnehmung des Konflikts vor Ort ist eine ganz andere als die Außenwahrnehmung«, erklärte der Autor. Keine Lösung in Sicht Analysen, mit denen viele Zuhörer nicht gerechnet hatten, das belegten die zahlreichen Wortmeldungen zu diesem Thema. Natürlich wäre eine Lösung der Israel-Palästina-Frage förderlich für den Frieden in Nahost, betonte Schneider, der sich selbst nicht als Pessimist, sondern als Realist bezeichnet. Doch die Frage, ob sich seiner Einschätzung nach der gordische Knoten des Konflikts in absehbarer Zeit durchschlagen lasse, beantwortete er mit einem so ernüchternden wie entschiedenen »Nein«. Das liege vor allem an der mangelnden Bereitschaft der politischen Führung auf beiden Seiten, zu einer Lösung zu kommen. »Was helfen kann, sind die Begegnungen von Israelis und Palästinensern im Alltag, zum Beispiel gemeinsame Kindergärten. Beide Seiten müssen Verständnis für die Probleme des Gegenüber haben. Es braucht mehr Dialog zwischen den Menschen, aber das sind nur ganz kleine Schritte auf einem langen Weg.« Mehr Aufklärung wünscht sich Schneider auch auf einem anderen Gebiet. Er brachte seine Sorge über den gestiegenen Antisemitismus in Europa zum Ausdruck, den er im Lauf der vergangenen Jahre immer stärker gespürt habe. Verschwörungstheorien rund um Israel und Juden seien wieder »en vogue«, das sei der Hauptgrund dafür gewesen, dass er nach einem kurzen Intermezzo in Europa zurück nach Israel gezogen sei. »Ich habe kein Problem damit, wenn mich mein Nachbar einen ‚Idioten‘ nennt. Aber es ist ein Problem, wenn er mich als ‚jüdischer Idiot‘ beschimpft«, hob Schneider hervor. Während er die Entwicklungen auf politischer Ebene, insbesondere die Verharmlosung des Holocaust als Randnotiz der Geschichte, äußert kritisch bewertete, gab er sich mit Blick auf die Völkerverständigung zuversichtlicher: »Tausende junge Israelis leben in Berlin, immer mehr junge Deutsche gehen nach Tel Aviv – das ist eine sehr erfreuliche Normalisierung. Ganz anders als in meiner Jugend, wo man als Jude in Deutschland praktisch Tür an Tür mit den ehemaligen Tätern leben musste«, sagte Schneider, der in München aufgewachsen ist. Eine permanente unterschwellige Anspannung Normal für Israelis sei schon seit Langem das Leben im Ausnahmezustand. Schneider illustrierte diese für Außenstehende so schwer nachvollziehbare Situation mit einigen Beispielen: die Absperrung ganzer Straßenzüge aufgrund eines Bombenverdachts, die akribische Musterung von Fremden auf beiden Seiten, die Omnipräsenz des Militärs in Wirtschaft und Gesellschaft. Es sei eine permanente, unterschwellige Anspannung, derer er sich aber erst bewusst werde, wenn er zu Besuch in Europa ist: »Da merke ich immer, dass irgendwann etwas von mir abfällt und ich richtig entspannen kann.« Schneider möchte und kann es nun ohnehin ruhiger angehen lassen, im Vergleich zur Hektik der aktualitätsgetriebenen Fernsehberichterstattung. Als »Editor At Large« der ARD kann er sich mittlerweile die Themen aussuchen und sich auf Dokumentationen und Reportagen fokussieren, die nicht nur die Oberfläche ankratzen. Außerdem hat er wieder mehr Zeit für das Schreiben, das dem studierten Germanisten, Theaterwissenschaftler, Kunsthistoriker und Philosophen so viel bedeutet. Der Vertrag über das nächste Sachbuch mit DVA sei bereits unterzeichnet, verriet er am Rande der Lesung. Zum Inhalt ließ er noch nichts Genaues verlauten, doch vermutlich wird ihn das weite Feld der jüdischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft nicht so bald loslassen. »Israel befindet sich einmal mehr an einem Scheideweg. Alles scheint im Augenblick möglich. Die globalen gesellschaftlichen Veränderungen lassen überall die Fundamente der Demokratie erzittern – doch in Israel geht es darüber hinaus immer auch noch ums Ãœberleben als Nation«, gab er den Zuhörern in Gütersloh mit auf den Weg. Quo vadis, Israel? Wird seine Wahlheimat in 30 bis 40 Jahren noch immer eine funktionierende Demokratie sein? Oder sich bis dahin in eine autoritäre Theokratie verwandelt haben? Wird Israel bis dahin den Nahen Osten dominieren oder im anderen Extremfall erneut um seine Existenz kämpfen müssen? Im Buch wie auch in der Lesung liefert Schneider plausible Antworten auf eine Menge Fragen. Doch an dieser Stelle entgegnete er, ganz Realist: »Ich gehöre zwar zum Volk der Propheten – aber ich selbst bin kein Prophet.«