FH #Bielefeld, schlechter Geschmack, eine Frage der Perspektive, Versal Eszett

Bielefeld, 7. November 2022

  • 9 aufsehenerregende Plakate von Gestaltungs Studenten der Fachhochschule Bielefeld mischen das Stadtbild auf. Motto: »Schlechter Geschmack«. Entstanden sind sie in einem Seminar des Grafikdesigner Duos »2xGoldstein«. Die Plakataktion ist gleichzeitig der Beitrag der #FH zum diesjährigen »art/science« #Festival.

Hehe. Da lacht der Grafikdesigner. Allein diese Schriftart … die Comic Sans liegt nun wirklich schon sehr lange im Giftschrank der Typografie. Und dann der Satz an sich: »ICH WEIß GRAPHIK DESIGN.« Falsches Deutsch, fehlerhafte Getrenntschreibung, »Grafik« altmodisch mit »ph« und ein »ÃŸ«, wo aus Gründen der Einheitlichkeit korrekterweise ein Doppel S stehen müsste. Dazu noch diese abgegriffene #Illustration im Stil von US #Comics der 50er Jahre. An diesem Plakat – entworfen von Jonathan C. Mientus – ist wirklich alles schlecht gestaltet.

Ein heiß diskutiertes Thema: Was ist schlechter Geschmack?

Oder ist es etwa so sehr missraten, dass es schon wieder richtig gut ist [Nein, ist es nicht. Jedenfalls nicht aus ästhetischer Sicht. Ästhetik lässt sich sogar physiologisch psychologisch herleiten. Anm. d. Red.]? Das fragen sich in diesen Tagen hoffentlich viele #Bielefelder, die zwischen Feilenstraße und dem Kreisel vor dem neuen Bahnhofsviertel unterwegs sind. Denn dort hängen neun Plakatentwürfe von Studenten der Fachhochschule (FH) Bielefeld, die auf ein heißdiskutiertes Thema zielen: Was ist schlechter Geschmack?

Die Aktion ist der Beitrag des FH-Fachbereichs Gestaltung zum diesjährigen »art/science« Festival, das das Zentrum für Ästhetik der Universität Bielefeld seit 2004 ausrichtet. Vom 9. bis zum 16. November 2022 dreht sich spartenübergreifend alles um das Motto »Schlechter #Geschmack«. Wissenschaftler halten Vorträge über Bausünden, B Movies und Kitsch. Es gibt Kabarett zum Thema, »nicht gekonnte #Musik«, eine Fotoausstellung sowie eine »Bad Taste« #Party.

Mit dem »schlechten Geschmack« kamen 2xGoldstein zurück nach Bielefeld

Die Plakate der Studenten der FH Bielefeld wollen im Stadtbild auf das Festival aufmerksam machen, aber jedes einzelne spricht auch für sich selbst. Entstanden sind sie in einem Seminar, das das renommierte Grafikdesign Duo »2xGoldstein« im Fachbereich Gestaltung gegeben hat. Hinter dem Label stecken die Zwillingsbrüder Andrew und Jeffrey Goldstein aus Karlsruhe. An der FH Bielefeld kennt man die Unzertrennlichen noch gut: Von 2008 bis 2013 hatten sie hier einen Lehrauftrag, den sie hauptsächlich der Plakatgestaltung widmeten. Mit dem »schlechten Geschmack« feierten sie nun ein Comeback in #OWL.

Der lange gestalterische Weg von Paul Bourdieu zu Dieter Bohlen

»Das Thema stellte sich als nicht so einfach heraus, wie wir am Anfang dachten«, sagt Jeffrey Goldstein stellvertretend für 2xGoldstein. »Also haben wir eine längere theoretische Einführung gegeben.« Maßgeblich dafür war die Kulturtheorie von Pierre Bourdieu, einem der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. »An einem Schaubild haben wir erklärt, wie seine wichtigsten Begriffe zusammenhängen, etwa #Kapital, #Habitus, #Distinktion und Position im #Sozialen Raum«, so Goldstein. »Geschmack ist in diesem Zusammenhang immer als Abgrenzung zu verstehen.«

Was so abstrakt klingt, haben die Studenten mitunter umso konkreter in Bildwelten umgesetzt. Paul Düstersiek zeigt mit seinem Plakat »Just Don’t«, wie Abgrenzung durch Mode funktioniert. Sein grausamer Zusammenschnitt von Kleidungsstücken der Marke Camp David ist ein Statement zu Ãœ 40 Männern, die freiwillig ihre Zugehörigkeit zum Dieter Bohlen Stil und der #DSDS #Kultur bekennen. »Die Schwierigkeit hierbei ist, das so hinzubekommen, dass man niemanden diffamiert«, erklärt Goldstein. »Das ist Paul sehr gut gelungen.« [Ach? Das ist Camp David Kleidung? Die Redaktion hat prima vista Nike im Sinn gehabt und gedacht, es bezöge sich auf den Slogan »Just Do It«. Anm. d. Red.]

Ist das Kommerz, Trash, Kult oder Kitsch? Die Grenzen sind fließend

Schließlich ist man haltungsmäßig beim »schlechten Geschmack« nie ganz auf der sicheren Seite. Er kann Kommerz werden, wie bei Camp David. Er kann Trash werden, wie die Filme von John Waters (»Hairspray«). Er kann Kultfiguren wie Guildo Horn gebären, die Kunstwelt auf den Kopf stellen (Jeff Koons, Damien Hirst, John Bock) und sogar eine globale kulturelle Bewegung hervorbringen (Punk). Und immer sind die Grenzen fließend.

Manchmal ist es auch einfach nur Kitsch. Dann muss es dringend weg, wie Leonie Knapp findet. Die Studierende demonstriert auf ihrem Plakat am Beispiel einer Nippesfigur, wie das zu bewerkstelligen wäre: auf den Mond schießen, mit dem Hammer zertrümmern oder doch lieber verschenken? »Ihre Arbeit ›11 Wege sich vom Schlechten Geschmack zu verabschieden‹ zeigt, dass man dieses Thema am besten humorvoll bewältigt«, sagt Jeffrey Goldstein. »Und zwar ohne dabei verletzend zu werden.«

Die Suche nach den richtigen Bildern wird zur Selbsterfahrung

Jedoch funktionieren auch rein typografische Ansätze. Antonia Ancot bedient sich in ihrer Arbeit bei der 3D #Ästhetik der 80er Jahre: Setzt man eine rote Folienbrille auf, liest man auf dem Plakat »echter Geschmack«; durch eine blaue Brille geschaut, wird daraus »schlechter Geschmack«. Ein Vexierbild, das deutlich macht, dass Geschmack immer eine Frage der Perspektive ist.

»Auf der Suche nach den richtigen Bildern haben viele der Studenten sehr tiefgreifende Erfahrungen gemacht«, sagt Goldstein. »Sie mussten ja immer wieder ihren eigenen Geschmack hinterfragen – da gab es nahezu psychoanalytische Momente.« Und was hält der Dozent persönlich für schlechten Geschmack? »Wenn man nicht weiß, dass man selber auch schlechten Geschmack hat. Das ist die Lehre, die man aus dem Ganzen ziehen kann: Jeder hat schlechten Geschmack.«

[Jeder hat Geschmack. Fragt sich lediglich, was für einen. Anm. d. Red.]