Eltern und Kinder zwischen Erschöpfung und »neuer Normalität«, Familienberatung der Diakonie Gütersloh fordert mehr Therapie- und Klinikplätze

Kreis Gütersloh, 16. November 2021

Ungeachtet der aktuellen Zahlen setzt bei vielen Familien wieder eine Art Normalzustand ein: Schule, Sportverein, Job – alles läuft zumindest in besser geordneten Bahnen. Dennoch melden sich viele Klienten, die die Familienberatungsstelle der Diakonie Gütersloh vor der Pandemie aufgesucht hatten, erneut bei den Familienberatern der #Diakonie #Gütersloh. Eine »neue Normalität mit Licht und Schatten«, wie die Berater berichten.

Petra Hingst und Angelika Fritsch-Tumbusch leiten seit neun Jahren als Führungs-Tandem die Familienberatungsstelle in Gütersloh. Diese besteht aus der Erziehungsberatung und den »Aufsuchenden Erziehungshilfen«. Im letzteren Fall gehen die Berater zu den Familien nach Hause und unterstützen sie vor Ort und in der Alltagssituation. Wie alle Beratungsstellen der Diakonie Gütersloh wird auch diese mit der Kirchensteuer kofinanziert. Ohne sie wäre das erbrachte Leistungsspektrum in diesem Umfang nicht denkbar.

Vermehrt Neuanfragen

Das Team verzeichnet nicht nur erneute, sondern deutlich mehr neue Anfragen. Petra Hingst erzählt, dass sie in einer einzigen Woche sieben Erstgespräche geführt hat: »Das hatte ich noch nie!« Ihre Kollegin Angelika Fritsch-Tumbusch erklärt das Phänomen so: »Mit der Entspannung nach dieser langen Krisenzeit kommt auch eine riesige Erschöpfung hoch.« Die Menschen müssten nun dabei unterstützt werden, die bewältigte Krise zu verarbeiten. »Wir können hier nicht alles abfangen, aber wir hören zu, begegnen den Menschen wertschätzend und schauen gemeinsam darauf, was geschafft worden ist und an welcher Stelle angeknüpft werden kann«, so die beiden Familienberaterinnen.

Anteil verhaltensauffälliger Kinder ist gestiegen

Und noch eine Entwicklung beobachtet das Team der Familienberatungsstelle: Der Anteil verhaltensauffälliger Kinder und damit der Bedarf an qualifizierter Therapie ist gestiegen. Diese Einschätzung wird durch die zweite Befragung der sogenannten »COPSY«-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (»#UKE«) gestützt. Demnach zeigte fast jedes dritte Kind ein knappes Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Zuvor war jedes fünfte Kind psychisch belastet. Auch eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) bestätigt, dass sich die Corona-bedingten Kita- und Schulschließungen negativ auf die psychische Gesundheit, die Lernzeit und den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt haben.

Gesundheitssystem steht vor »Therapie-Stau«

Der »Therapie-Stau« sei nicht nur neuem Bedarf geschuldet. Denn: »Diejenigen, die zuvor schon einen Therapieplatz hatten, bleiben in Behandlung, eben weil sich die Probleme durch Corona noch verschärft haben«, so Petra Hingst. Gemeinsam mit Angelika Fritsch-Tumbusch fordert sie daher dringend, dass das Gesundheitssystem auf die veränderte Situation reagiert und deutlich mehr Plätze im Bereich der Psychotherapie speziell für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und auch Erwachsene zulässt. Denn in den Beratungsstellen könne nur ein Teil der notwendigen Hilfen geleistet werden. »Wir finden derzeit keine adäquaten Hilfen für unsere Klienten, wie beispielsweise wöchentliche Therapien oder Klinikplätze«, erklärt Fritsch-Tumbusch.

Rotarier unterstützen Kunst- und Kulturprojekt

Bei den meisten Familien steht allerdings an, ganz gewöhnliche Aktivitäten wieder aufzunehmen. Beispiele: Viele Kinder holen jetzt ihr Seepferdchen nach. Sport und Bewegung, etwa im Verein, stützen nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern fördern auch die Sozialkompetenz. Die Erziehungsberatung der Diakonie Gütersloh bietet für die Kinder »ihrer« Klienten beispielsweise ein Kunst- und Kulturprojekt an, unterstützt von den Gütersloher Rotariern. Demnächst ist außerdem ein Kurs mit einem Zen-Do-Lehrer vorgesehen, »damit sich die Kinder wieder selbst spüren«.

Was helfen kann: Achtsamkeit und kleine Rituale in der Familie

Auch Achtsamkeit und kleine Rituale helfen. Diese könnten ganz simpel sein. Ein Tipp von Angelika Frisch-Tumbusch: »Sich einmal pro Woche mit der ganzen Familie hinsetzen. Jeder darf dann eine Sache nennen, die gut war und eine, die in dieser Woche schlecht gelaufen ist.«Â Miteinander zu reden sei gerade jetzt ungemein wichtig für ein gut funktionierendes Familiengefüge. Dazu gehört auch das Nachdenken über die Pandemie. »Was will ich daraus behalten und was möchte ich aus der Zeit vor Corona wieder zurückerlangen?«, so Fritsch-Tumbusch weiter. Viele Kinder und Jugendliche hätten nämlich auch wertvolle Erfahrungen aus der Krise gewonnen. Als Beispiele nennen die beiden Familienberaterinnen, dass kleine Kinder mehr Nähe erfahren konnten, Geschwister enger zusammenrückten und dass das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können, gestärkt wurde. »Die Bedeutung von Freundschaften außerhalb der Familie ist ebenfalls in den Vordergrund gerückt und damit verbunden die Frage, wie sich diese Freundschaften nach einem Kontaktabbruch wieder neu aufbauen lassen«, erklärt Petra Hingst.

»Aus jeder Krise lässt sich etwas gewinnen«

Die Familienberaterinnen gehen davon aus, dass dieser »Nachreifungsprozess« der Pandemie sowohl die Eltern als auch die Kinder noch eine Weile beschäftigen und deren »Normalität« verändern wird. Zugleich verbreiten die Beraterinnen Zuversicht: »Aus jeder Krise lässt sich etwas gewinnen.«