Bielefeld (fhb). Keine Geburt ist wie die andere, und nicht immer verläuft alles streng nach Plan. Neben fundiertem theoretischen Wissen sind nicht zuletzt praktische Erfahrung und Übung in der Geburtshilfe unverzichtbar, um werdende Mütter in ihrer jeweiligen individuellen Situation kompetent begleiten zu können. Beides soll künftig unter der Ägide der Hochschulen geschehen.

Akademisierung überfällig – Hebammen tragen viel Verantwortung

Mit der vom Gesetzgeber bereits im Jahr 2000 beschlossenen Akademisierung der Hebammenausbildung werden sowohl die Theorie, als auch der fachpraktische Unterricht von den bisher federführenden Hebammenschulen an die Hochschulen verlagert. Damit schließt Deutschland auf zu einer in den meisten europäischen Ländern längst gängigen Praxis. „Hebammen tragen bei gesunden Frauen mit normalem Verlauf der Schwangerschaft die Hauptverantwortung für Vorsorge, Geburt und Wochenbettbetreuung“, sagt Maike Lammert, erfahrene Hebamme, Berufspädagogin M.A. und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Bielefeld. »Hebammen sind vorwiegend eigenverantwortlich tätig. Deshalb ist eine entsprechend ausgerichtete Hochschulausbildung unverzichtbar.« Und so können Interessierte ab dem kommenden Wintersemester an der FH Bielefeld den praxisintegrierten Bachelor-Studiengang Angewandte Hebammenwissenschaft belegen, den Lammert mit ihren Kolleginnen und Kollegen zurzeit aufbaut.

FH-Skills-Lab mit Hightech-Simulationspuppen

Die Konzeption der theoretischen Inhalte des Studiums, die in den Seminarräumen und Hörsälen auf dem Campus Nord der FH Bielefeld vermittelt werden, ist bereits auf der Zielgeraden. Und auch für den praktischen Teil der Ausbildung laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren: An der FH wird zu diesem Zweck für die Hebammenwissenschaft ein sogenanntes Skills-Lab mit mehreren Räumen eingerichtet. Das Skills-Lab soll eine realitätsnahe Arbeitsumgebung abbilden. Dazu gehören zum Beispiel eine Hebammenpraxis und ein nachgebauter, weitgehend vollausgestatteter Kreißsaal. Die Rolle der Schwangeren oder Gebärenden übernehmen hier spezielle »Puppen« oder auch Schauspielerinnen.

Babypuppen und Becken aus Kunststoff

Die »Puppen« sind dabei keineswegs nur Platzhalter, sondern Hightech-Simulatoren, mit denen sich viele geburtshilflich relevante Situationen nachstellen lassen – bis hin zur kompletten Geburt. Aber auch Materialien für einzelne Ãœbungsschritte wie beispielsweise Arme zum Legen von Infusionen, Becken aus Kunststoff oder Babypuppen für das Erlernen der Erstuntersuchung des Neugeborenen kommen zum Einsatz.

Praktisches Lernen im geschützten Rahmen

»Mit den Simulationspuppen üben die Studierenden die unterschiedlichsten Geburtsszenarien in der geschützten Umgebung des Skills-Lab«, so Lammert. »Hier können sie sich erproben und auch Fehler machen. So lernt man am besten.« Ganze Kleingruppen können im Skills-Lab mit der Puppe trainieren. Die Trainings lassen sich anschließend videogestützt evaluieren.

FH macht sich beim Kooperationspartner PZHW Minden schlau

Um herauszufinden, welche Puppe an der FH zum Einsatz kommen soll, hat sich Maike Lammert das Modell »SimMom« des Praxiszentrums für Hebammenwissenschaft (PZHW) Minden vor Ort ganz genau erklären lassen. Das PZHW ist an der Akademie für Gesundheitsberufe in Minden verortet, die Teil der Mühlenkreiskliniken ist. Es wird künftig genau wie das PZHW Paderborn Kooperationspartner des Bielefelder Studiengangs sein und unter anderem die Organisation und Anleitung der Praxiseinsätze der Studierenden übernehmen.

Simulation kompletter Geburtsverläufe möglich

Ein dezentes Hüsteln klingt aus einem Geburtsbett. »Sie ist einsatzbereit«, sagt Meike Meier, leitende Hebamme am Johannes Wesling Klinikum. Meier ist eine ausgewiesene Expertin im Training mit Simulationspuppen am PZHW Minden, eine sogenannte CRM-Instructorin. Die erfahrene Ausbilderin gibt Befehle in einen Laptop ein – das Hüsteln geht über in schwere Atmung. Im Bett liegt die SimMom, lebensgroß mit dickem Schwangerschaftsbauch. Die SimMom kann stöhnen und schreien oder über ein Headset zum Sprechen gebracht werden. Viel wichtiger jedoch: Entsprechend programmiert lassen sich mit ihr verschiedene komplette Geburtsverläufe simulieren.

Geburtshilfliche Handgriffe und schwere Komplikationen üben

Meier öffnet den Bauch der »SimMom«, nimmt eine Baby-Puppe heraus und setzt sie mit dem Po nach unten wieder hinein. »Diese sogenannte Beckenendlage des Kindes erfordert bestimmte geburtshilfliche Handgriffe. An der Puppe lässt sich das hervorragend trainieren.« Auch schwere Komplikationen unter der Geburt können mit der »SimMom« gut simuliert werden: »Fühl einmal ihre Zunge«, fordert Meier ihre FH-Kollegin auf. Lammert tastet. »Die schwillt an!« Im Kreißsaal wäre das eine lebensbedrohliche Situation für die Gebärende, sie könnte nicht mehr atmen, ein Luftröhrenschnitt wäre nötig – ein extrem seltenes Szenario, das nicht zum Standardtraining gehört. Meier klappt dennoch den Hals der »SimMom« auf. »Hier können die Anästhesistin oder der Anästhesist dann die Beatmung anlegen.«
 
Ganze Kreißsaal-Teams trainieren mit der »SimMom«
 
Komplizierte Verläufe oder schwere Komplikationen sind im Kreißsaal zwar nicht die Regel. »Umso wichtiger ist hier das grundlegende und wiederholte Training, um die entsprechenden Handlungen und Handgriffe im Notfall abrufen zu können«, erklärt Meike Meier. Deshalb trainiert die Hebamme in den Räumlichkeiten des PZHW regelmäßig mit den Kreißsaal-Teams der Mühlenkreiskliniken seltene Szenarien mit der Simulationspuppe, einschließlich Reanimationen. In manchen Szenarien kommen auch Schauspielerinnen zum Einsatz.
 
»MamaBirthie« für Routineuntersuchungen
 
Dennoch ist es beeindruckend, dass die »SimMom« in der Lage ist, fast alles nachzuspielen, was unter einer Geburt passieren kann. Für unkomplizierte Verläufe, Routine-Untersuchungen, Standardhandgriffe und für die Darstellung von weniger komplexen Notfällen gibt es darüber hinaus noch »MamaBirthie«. Das ist eigentlich nur ein mobiler Baby-Bauch. Meike Meier legt ihn ihrer Kollegin von der FH an: »Im Unterricht schnallen sich die Auszubildenden ›MamaBirthie‹ gegenseitig um und agieren dann als Schauspielerinnen. So können sie besonders gut die Kommunikation mit den Gebärenden üben.« Nicht nur das: Im Bauch steckt auch ein Baby, dessen Lage zu tasten sich genauso gut trainieren lässt wie die für die Einschätzung des Geburtsverlaufs wichtige Weitung des Muttermunds.
 
Akademisierung trägt der Komplexität des Berufs Rechnung
 
Die Akademisierung des Hebammenberufs begrüßt Maike Lammert, möchte die Entwicklung aber nicht als Ãœberbetonung des theoretischen Teils des Studiums missverstanden wissen: »Das neue Hebammenstudium trägt der gewachsenen Komplexität und den gestiegenen Anforderungen des Berufsfeldes Rechnung. Es fördert wissenschaftliche und reflexive Kompetenzen und ermöglicht darüber hinaus weitere berufliche Optionen wie den Eintritt in Wissenschaft und Forschung. Möglicherweise zeigt sich die Akademisierung am Ende auch in der Entlohnung. Der Beruf wird insgesamt aufgewertet.«
 
Theoretisch und praktisch auf höchstem Niveau
 
Die Zusammenarbeit mit den PZHWs und der Unterricht im Skills-Lab sind in den neuen Studiengängen für Hebammenwissenschaft gesetzlich zwar nicht vorgeschrieben. »Wir halten sie aber für außerordentlich sinnvoll in der Verknüpfung von Theorie und Praxis.« Maike Lammert erläutert das Zusammenspiel im Bielefelder Studiengang: »Inhalte wie bestimmte Geburtsmanöver werden zunächst in der Theorie gelehrt, im fachpraktischen Unterricht im Skills-Lab eingeübt und schließlich in der Praxis beispielsweise im Kreißsaal hier in Minden oder auch im PZHW Paderborn umgesetzt.« Auch Einsätze bei freiberuflichen Hebammen im außerklinischen Tätigkeitsfeld von Hebammen sind inzwischen fester Bestandteil des Studiums. Auch hierfür gibt es gezielte Ãœbungen im Skills-Lab.
 
Rückmeldungen aus den jeweiligen Bereichen helfen, die Inhalte und Ãœbungen optimal aufeinander abzustimmen. »Unseren Studierenden können wir damit einen Abschluss auf höchstem Niveau ermöglichen, im theoretischen wie im praktischen Teil«, sagt Maike Lammert. Nebenbei streicht sie der »SimMom« fürsorglich über den Kopf und lacht, als ihr die Geste auffällt. »Das steckt so drin.« Und braucht nicht simuliert werden.