Ein Verhalten, das unerwartet auftritt, nicht zu dem davor und danach gezeigten passt, und in der Situation unangemessen und nicht hilfreich erscheint, nennt man Ãœbersprungshandlung. Ein bekanntes Beispiel dafür stammt von dem bekannten Zoologen Konrad Lorenz, der Beispiele dazu aus der Tierwelt zusammengetragen hat. Lorenz sprach indes von der »Ãœbersprungbewegung« beziehungsweise dem »Ãœbersprungverhalten«. Dem Konzept der Ãœbersprungbewegungen liegt die Annahme zugrunde, dass zwei einander entgegengesetzte Instinkthandlungen der gleichen Motivation (zum Beispiel Angriff und Flucht) sich wechselseitig hemmen und die für beide freigesetzte »Triebenergie« in dieser Situation auf eine dritte Verhaltensweise überspringt, so dass diese dritte Verhaltensweise ausgeführt wird – also Bewegungen, die einem anderen Instinkt gehören als den augenblicklich aktivierten Instinkten beziehungsweise dem augenblicklich aktivierten Instinkt. Ein Beispiel aus der Tierwelt: Zwei Hähne befinden sich in einem Territorialkonflikt. Es gibt für sie zwei Möglichkeiten: Kampf oder Flucht. Ein Kampf ist erfolgversprechender, aber riskant, eine Flucht ist einfacher und risikoloser. Beide Handlungsmöglichkeiten scheinen also gleichwertig zu sein. Was machen die Hähne also? Sie picken erstmal ein paar Körner. Ein völlig sinnloses Verhalten, das die territoriale Frage nicht klären wird. Aber es schindet etwas Zeit und es beruhigt, denn Ãœbersprungshandlungen dienen auch zur Stressminderung. Deshalb gehören dazu oft Verhaltensweisen, die in die Bereiche Nahrungsaufnahme oder Fortpflanzungsversuche fallen. Oft treten Gesten auf, die nicht zur Situation passen und unbewusst ausgeübt werden, wie plötzliches Nägel kauen. Auch unpassend erscheinendes Lachen bei einem Trauerfall oder das Zerschmeißen eines Tellers aus Wut sind charakteristisch. Weitere Beispiele sind das Herumzupfen an der Kleidung, das Zurechtrücken einer Brille, das plötzliche Putzen des Zimmers oder das ständige Drücken des Druckknopfes eines Kugelschreibers. Ãœbrigens war das Horten von Toilettenpapier zu Anfang der Coronapandemie, das weder Menschenleben retten noch Arbeitsplätze sichern kann, auch eine Form einer Ãœbersprungshandlung, um sich zu beruhigen – es vermittelte ein subjektives Gefühl der Sicherheit. Solche Handlungen können auch bewusst vorgenommen werden und hilfreich sein, wie beispielsweise das Trinken eines Schluckes Wasser bei einer mündlichen Prüfung. Man beruhigt sich und gewinnt ein wenig Zeit. Deshalb stehen in vielen Situationen wie beispielsweise Talkrunden im Fernsehen auch Getränke bereit. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gäste während der Show plötzlich ein dringendes Durstgefühl haben. Wenngleich seit einigen Jahren ein wahrer Wahn des ausreichenden Trinkens um sich gegriffen hat. Max Goldt sprach davon, dass man im Gegensatz zu früher heute teilweise nicht mehr in der Lage sei, selbst kürzeste Wegstrecken ohne ausreichende Wasserbevorratung zu bewältigen. Ernstzunehmende Mediziner sagen hingegen, man solle dann trinken, wenn man Durst habe. Der Flüssigkeitsbedarf sei individuell verschieden und auch situations- und umgebungsabhängig, feste Vorgaben seien unsinnig. Dieses Verhalten funktioniert natürlich nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Menschen. Dort zeigen sich Ãœbersprungshandlungen anders, beispielsweise in Beruhigungsgesten wie Kratzen, Streicheln oder beispielsweise an irgendetwas mit den Händen herumzufummeln. Nervosität, Unsicherheit oder ein innerer Konflikt können eine Ãœbersprungshandlung hervorrufen. Die Häufigkeit solcher Gesten zeigt unmittelbar das Stressniveau an, wie beispielsweise der italienische Psychiater Alfonso Troisi von der University of Rome Tor Vergata herausgefunden hat. So etwas kann man beispielsweise in den Wartezimmern von Zahnärzten gut beobachten.